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Hans Kohlhase
Hindemiths Einfluss als Lehrer. Zum Schaffen seiner
Schülerin Felicitas Kukuck
[...]
Im Bereich der Vokalmusik hat Kukuck, anders als in ihrer Instrumentalmusik,
Strömungen der Musikentwicklung nach 1945 aufgegriffen. Hier vollzieht
sich die Auseinandersetzung mit neueren Techniken, die aber nicht isoliert
als Selbstzweck, sondern immer als Mittel der Textaussage eingesetzt werden.
So bezieht beispielsweise ihre Motette Wo bleibst du, Trost melodramatische
Gestaltung und Sprechchor zur Verdeutlichung der Textintention mit ein.
Die Verbindung von Sprache und Gesang dient dabei u. a. der Verdeutlichung
von unterschiedlichen Sprach und Zeitebenen.
Auch mit improvisatorischen Tendenzen und mit der Zwölftontechnik
setzt sich Kukuck lediglich im Vokalschaffen auseinander. Ihre Klagelieder
des Jeremias waren ursprünglich zwölftönig konzipiert.
In einem Tagebuch legte sie sich über jeden Kompositionsschritt Rechenschaft
ab. Der Einsatz der Zwölftontechnik wurde aber aufgegeben, weil ihre
Verfahren Krebs, Umkehrung etc. sich mechanistisch vom Text abzuspalten
drohten. Die Tendenz, die chromatische Totalität einzubeziehen, findet
man dagegen in ihrer Musik häufig. Wie auch Hindemith bringt sie
aber selten alle zwölf Töne in einem Thema. Ist dies dennoch
der Fall, so steht dahinter vielfach in semantischer Absicht das traditionelle
Verfahren der Zahlensymbolik. Zwei Beispiele hierfür:
1. In dem Passionsoratorium Der Gottesknecht wird innerhalb der
6. Kantate die zentrale Stelle Eli, Eli lama asabthani zwölftönig
gestaltet.
Passionsoratorium Der Gottesknecht ©1957
Die zwölf Töne symbolisieren nach eigener Aussage den Kosmos.
Zugrunde liegt die alte Vorstellung, dass die Zahl zwölf ein Symbol
der Schöpfung, Menschheit oder Christenheit ist. Die Wirkung dieser
singulären Zwölftonstelle wird dadurch verstärkt, dass
die umgebenden Partien auffallend traditionell und einfach gestaltet sind.
Das vorangehende Chorrezitativ wird von einer absteigenden Skala in Quartsextakkord-Mixtur
grundiert, die nach den Worten Christi im anschließenden Rezitativ
wieder aufgegriffen wird.
Zugrunde liegen dem Abschnitt zwei durch Intervallkonstellationen
aufeinander bezogene Zwölftonreihen. Die erste - in der Oberstimme
- ist gekennzeichnet durch Sprünge der großen Septime. Die
zweite - begleitende - wird durch Quart-Mixtur farblich abgetönt.
Bei der Übersetzung der Worte Christi werden beide Reihen um einen
Halbton nach oben transponiert. Der zu dem Gesang tretende Sprechgesang
des Hiob-Chores symbolisiert als Vorform des Singens den zeitlichen Abstand
zwischen Altem und Neuem Testament.
2. Dasselbe Verfahren, eine zahlensymbolische Zwölftönigkeit,
bestimmt offensichtlich auch den Beginn der Motette Wo bleibst du, Trost,
in der Kukuck die Geschichte vom Turmbau zu Babel ihrem Gegenstück
im Neuen Testament, dem Bericht vom Pfingstwunder gegenüberstellt.
Hier ist das eröffnende Chorunisono zwölftönig angelegt.
Motette Wo bleibst du, Trost ©1974
Dem ersten Textabschnitt {Was ist der Mensch, dass du seiner
gedenkst) liegt eine Reihe zugrunde, die signifikant in zwei strukturell
aufeinander bezogene Hälften von fünf und sieben Tönen
geteilt ist. Die zweite Hälfte ist dabei die nicht strenge Sequenzierung
der ersten Hälfte. Die Zahl Fünf dient vermutlich als Sinnbild
der fünf Wunden Christi und symbolisiert die Erlösung durch
Christi Leiden. Die Zahl Sieben hat als Zahl des Schöpfers zu gelten.
Dem zweiten Abschnitt des Textes (und des Menschen Kind, dass du dich
seiner annimmst?) wird eine transponierte Umkehrung der Zwölftonreihe
zugeordnet, die allerdings am Ende eine Unregelmäßigkeit aufweist.
Die harmonikale Ausfaltung dieser beiden Zwölftonreihen - die Stimmeinsätze
folgen dabei den Reihen - grundiert die Rezitation des Anfangs des Johannesevangeliums.
Man hat am Beginn dieser Motette den Eindruck, eine Zwölftonkomposition
vor sich zu haben. Jedoch bereits nach kurzer Zelt folgt die Klangorganisation
den Prinzipien der Zwölftönigkeit nicht mehr streng. Auf die
symbolische Zwölftönigkeit kommt Kukuck im weiteren Verlauf
der Motette aber mehrfach zurück.
Die Orientierung an der Sprache als Hauptantrieb ihres künstlerischen
Schaffens wirkt bei Kukuck auch in die Instrumentalmusik hinein. So arbeitet
sie bisweilen zur Verdeutlichung der Aussage auch im Instrumentalbereich
mit Texten, die allerdings später wegfallen. Eines ihrer m. E. besten
Stücke, die Fantasie für Bratsche und Klavier, eine wertvolle
Bereicherung der spärlichen Bratschenliteratur, ist die Umsetzung
einer Vokalkomposition. Es handelt sich um die Vertonung des Hohen Liedes
in der Übersetzung von Max Brod, und es gibt nach Aussage von Kukuck
in dem Bratschenstück Stellen, denen man den Text unterlegen kann.
Der Titel Fantasie wurde gewählt, um auf den Transformationsprozeß hinzuweisen
und um anzuzeigen, das Werk sei nicht reine Instrumentalmusik.
Sprachcharakter im Sinne einer instrumentalen Klangrede haben
auch zwei langsame Sätze, an denen ich im folgenden Zusammenhänge
zwischen der Instrumentalmusik von Hindemith und Kukuck aufzeigen möchte.
In beiden Beispielen werden mehrere Aspekte wirksam: u. a. Instrumentalmusik
als Klangrede, die Verbindung von Laienmusik mit Kunstanspruch und die
Tendenz zum Konstruktiven, zur Beschränkung bei der Wahl des Materials.
l. Die Sonate für Sopran-Blockflöte und Klavier ist eine heitere,
unkompliziert wirkende Spielmusik, die dennoch an den Interpreten keine
geringen Anforderungen stellt. Die Analyse offenbart, daß die Naivität
des Satzes (böswillige Stimmen würden Banalität sagen)
nicht unreflektiert ist. Unter einer simplen Oberfläche zeigt sich
eine differenzierte, streng konstruierte Schicht. Auf den langsamen Satz,
der mit dem folkloristischen Finale unmittelbar verbunden ist und an den
im Finale auch erinnert wird, möchte ich näher eingehen.
Er wird fast ausschließlich von der fallenden Terz bestimmt, die
in derart massiertem Auftreten offensichtlich als Kuckucksterz eine Anspielung
auf den Namen der Komponistin ist. Solche Erkenntnismarken liebt Kukuck.
Ihr persönliches Signum ist die große Sept F-E, die sie gerne
als musikalisches Anagramm für Felicitas am Anfang eines Stückes
exponiert. So z.B. in der Violinsonate, auf die ich unten noch zu sprechen
komme.
[...] Die auffällige Reduktion der Klangmittel könnte auf den
ersten Blick als kompositorische Primitivität erscheinen, sie entpuppt
sich aber bei näherer Betrachtung als kompositorisches Kalkül.
Konstruktionsgrundlage sind die vier möglichen Zirkel aus einer Kombination
von kleiner Terz und Quart bzw. kleiner Terz und kleiner Sekunde (beide
Zirkel haben dasselbe Tonmaterial). Jeder dieser Zirkel birgt in sich
3mal die Möglichkeit, die für Bartok so charakteristischen,
aber auch schon im Frühwerk Hindemiths anzutreffenden Dur-Moll-Spiegelakkorde
auszusondern, die simultan und sukzessiv, in gespreizter Form und in enger
Lage (hier kommt ihre ideelle Mischung aus Dur- und Moll-Dreiklang besonders
deutlich heraus) den Satz prägen. Jeweils zwei Zirkel im Ganztonabstand
decken das gesamte Zwölftonspektrum ab.
Sonate für Sopran-Blockflöte ©1968, langsamer Satz
Die Möglichkeit, aus jedem Zirkel drei verschiedene Dur-Moll-Akkorde
zu bilden, wird von Kukuck zur Sprachaussage genutzt. Der Satz ist im
wesentlichen dreistimmig angelegt, die Stimmen setzen nacheinander ein.
Sie sind durch die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Zirkel einerseits
zwar verbunden, werden aber andererseits durch den jeweils dritten Stimmeinsatz
auch getrennt. Denn dieser Einsatz erweitert den ersten Dur-Moll-Akkord
dissonanzreich und stört ihn gewissermaßen, er bildet aber
auch andererseits mit jedem der vorangehenden Einsätze einen neuen
Dur-Moll-Akkord. Alle diese Akkorde irritieren sich gegenseitig. Es entsteht
ein merkwürdig schwebender, dissonanter Klangraum, der durch Rufe
melodisch konturiert wird und dessen Dissonanzreichtum durch melodische
Mittel konsonante Wirkungen abgewonnen werden. Die eindringliche Sprache
dieses Satzes wird noch dadurch verstärkt, dass die umgebenden Sätze
extrem heiter und folkloristisch gestaltet sind.
[...]
2. Im zweiten Teil ihrer Sonate für Violine und Klavier hat Kukuck
auf den Sprachcharakter ausdrücklich verwiesen. Auf ein Gedicht lautet
die Satzüberschrift. Zugrunde liegt ein reales Gedicht [...]
Sonate für Violine und Klavier ©1968, langsamer Satz
Keimzelle von Kukucks Gedicht ohne Worte ist erneut eine Intervallstruktur,
deren Abwandlungen und Erweiterungen den langsamen Teil des Satzes, das
eigentliche Gedicht, prägen. Die Konstruktion der Melodie, die, ohne
zwölftönig zu sein, alle zwölf Töne enthält,
erinnert mit ihrem Netz von Beziehungen, ihren oft mehrdeutigen Interpunktionen
an Hindemiths melancholischen Satztyp. Der Sprachduktus ist von besonderer
Eindringlichkeit.
Die chromatisch bestimmte Begleitung reiht über weite Strecken die
kleine Sekunde, das wichtige Strukturintervall der Melodie, gewissermaßen
endlos aneinander, greift aber auch immer wieder in der Regel chiastisch
strukturierte Bruchstücke der Melodie auf. Die durchgängige
Führung des Diskants in parallelen Quarten, die häufigen Mixturen,
wenn auch noch der Bass parallelgeführt wird, vermitteln eine eigentümliche
Statik, von der sich die Expressivität der Melodie deutlich abhebt.
Die Aussage der Melodie-Keimzelle wird im Laufe des Gedichts ohne Worte
durch freie Sequenzketten und Intervallvergrößerung intensiviert.
Dies ist besonders in den Schlusstakten der Fall, wenn die ursprünglichen
Terzen zur großen Sept gespreizt sind und damit an den Kopfsatz
erinnern, der mit dem Signum F-E begonnen hatte. Eben dieses F-E-Anagramm
wird, durch Sekundbrücken und Sequenzierung erreicht, bedeutungsvoll
an den Anfang des Kontrastteils gesetzt.
Dem Gedicht liegt vermutlich eine melancholisch-schmerzliche
Stimmung zugrunde. Gestützt wird diese Deutung durch Kukucks Bekenntnis
zum Symbolwert der Intervalle. Intervallstrukturen wird in traditionsbewusster
Weise eine semantische Bedeutung zuerkannt, die selbstverständlich
nicht absolut, sondern auf den jeweiligen Kontext bezogen ist. So ist
die große Sept aufwärts für Kukuck der Inbegriff des Aufschreis,
der Tritonus verkörpert das Dämonische und die verminderte Quart
gilt ihr als das Schmerzintervall per excellence. Alle diese Symbolintervalle
bestimmen zusammen mit der in diesem Zusammenhang vermutlich ebenfalls
traditionell als Zeichen von Trauer eingesetzten Chromatik den Satz.
Wie stark das konstruktive Denken im Unterbewusstsein der Komponistin
verankert ist, zeigt der weitere Fortgang. Die Keimzelle des langsamen
Teils und ihre Varianten spielen auch in das Thema des sich anschließenden,
von slawischer Folklore inspirierten sehr lebhaften Teils hinein.
Dieser Abschnitt sollte laut Kukuck eigentlich nur als Kontrast
dienen. Dass die Aufdeckung von Beziehungen nicht bloß analytische
Konstruktion, sondern unterbewusste Planung ist, zeigt sich u. a. darin,
dass die Elemente der beiden Themen im weiteren Verlauf beziehungsvoll,
gewissermaßen didaktisch kombiniert werden (T. 73-83 und 108-116).
Das Verfahren, Zusammenhang eher assoziativ und nicht diskursiv
zu stiften, spielt auch in Hindemiths Musik eine große Rolle. Es überlässt,
ebenso wie die bei Hindemith und Kukuck angesprochene Tendenz, Melodie-
oder Thementeile durch eine Vielzahl von sich überlagernden, versteckten
Bezügen aufeinander zu beziehen, dem Rezipienten und vor allem dem
Interpreten einen großen Freiraum, aber auch eine große Verantwortung.
Aus: Hans Kohlhase, Hindemiths Einfluss als Lehrer.
Zum Schaffen seiner Schülerin Felicitas Kukuck, in: Hindemith-Jahrbuch
1984/XIII. S. 156-183.
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