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Prof. Dr. Eva Rieger | Universität Bremen
Laudatio zur Verleihung der Brahms-Medaille der Stadt
Hamburg am 25.1.1995
Sehr geehrte Felicitas Kukuck, liebe Gäste,
als ich kürzlich über Händels Opern arbeitete, stieß ich
auf ein Buch, das eine einzelne Oper analysiert. Ich schlug es erwartungsvoll
auf, denn ich erwartete davon Informationen über den Affektgehalt,
die Tonartensymbolik, die Rolle der Instrumentation, die Darstellung der
Affekte mit Hilfe der Melodik undsoweiter undsofort. Statt dessen wurde
ich mit vielen Tabellen konfrontiert; ich erfuhr, daß das Ritornell
26 mal ohne Veränderungen nach dem A-Teil der Arien erfolgt, .8 mal
mit Kürzungen, 9 mal mit anderen Veränderungen, daß die
Rezitative 14 mal unbegleitet und acht mal begleitet sind, daß die
Blockflöte in zwei Arien vorkommt.
Ich erwähne dieses Beispiel, weil es in der Musikwissenschaft nicht
vereinzelt steht und ein typisches Problem umreißt. Was nützt
Forschung, wenn sie nicht bemüht ist, das gesamte Umfeld eines Musikwerks
oder eines Komponisten heranzuziehen? Wahrheit in der Wissenschaft kann
nur eine Annäherung bedeuten, und doch sind wir verpflichtet, sie
im Auge zu behalten, uns kreisend den Gegenständen zu nähern
und möglichst umfassend alte Dimensionen zu beachten. Im Falle von
Frauen in der Musik wurde dieser Anspruch sträflich vernachlässigt.
Denn als wir in den aufregenden siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung
daran gingen, kulturelle Vorbilder auch in der Musik aufzuspüren,
entdeckten wir sie zwar nicht in den offiziellen Lexika, fanden aber dafür
auf Nebenschauplätzen viele Zeugnisse. Es fehlten die großen
Namen, wie sie Männer vorzuweisen hatten; Frauen waren aber überall
tätig gewesen, als Musikpädagoginnen, in der Unterhaltungsmusik,
in der Kirchen- und Laienmusik. Dies hing mit der Zuweisung der sogenannten "funktionalen" Musik
an Frauen zusammen, aber auch mit dem Gebot der "sozialen Mutterschaft",
einer Hypothek aus dem 19. Jahrhundert, die besagte, daß Frauen
lediglich in den Berufen arbeiten sollten, in denen sie soziale Dienste übernahmen.
Für die Lexika waren solche Namen nebensächlich und uninteressant,
da sie sich nach anderen Normen als den offiziellen richteten.
Es wäre jedoch irrig, Komponistinnen zu unterstellen, sie hätten
sich - quasi gegen ihren Willen - auf einen Sektor des Musiklebens "abschieben" lassen.
Sie, Felicitas Kukuck, entschieden sich bewußt für die geistliche
Vokalmusik, weil Sie darin eine beglückende Erfüllung Ihrer
kompositorischen und dirigentischen Erfahrung sahen. Und daher freue ich
mich mit den Gästen des heutigen Tages so sehr, weit die Ehrung ein
deutliches Zeichen setzt, das über das herausragend Geleistete noch
hinausgeht. Die Ehrung adelt zugleich eine Musikauffassung,. die von humanem
Denken geleitet wird, die zwar nicht avantgardistisch, aber doch originell
ist, die kommunikative Elemente anstelle schockierender Effekte setzt,
die qualitativ hochstehende, aber zugleich spiel- und singbare Musik über
das spektakuläre Experiment stellt. Und seien wir ehrlich: erreicht
nicht die Musik einer Felicitas Kukuck, die begierig von zahllosen Chören
und Instrumentalensembles geübt und aufgeführt wird, ein weitaus
größeres Publikum als das in einem Konzert einmal Aufgeführte?
Hier gilt es Mißverständnissen vorzubeugen. Singbares oder
Spielbares zu komponieren, bedeutet keinesfalls, sich in einem Kreis des
Altbekannten oder gar Altbackenen zu bewegen. Sie, Frau Kukuck, haben
sich stets dem Neuen gegenüber aufgeschlossen gezeigt und sich bei
der Wahl Ihrer musikalischen Mittel keine Einschränkungen auferlegt.
Im Gegenteil, Sie griffen dort zu, wo es um die Erweiterung des Tonalitätsbegriffes,
die Integration des Geräusches in die Musik, um das Ernstnehmen des
Spielerischen und um Improvisationsangebote ging. Allerdings standen Sie
der zeitgenössischen Entwicklung nicht 'unkritisch gegenüber
(Zitat): "Die Gefahr sehe ich in der intellektuellen Kälte, die von
mancher modernen Musik ausgeht. Einige der (angeblich) 'neuen' Klangereignisse
verbrauchen sich sehr rasch und erzeugen Langeweile. Nichts ermüdet
die Seele so sehr wie das dauernd Gleiche, ganz einerlei, ob es sich hierbei
um dauernde Wohlklänge oder Mißklänge handelt". Ist es
ein Zufall, daß Sie sich die Worte Ihres Lehrers Paul Hindemith
zu eigen machten, der forderte, ein Künstler dürfe sich nicht
isolieren? Der Künstler, so Hindemith, schreibe nicht zu seinem eigenen
Vergnügen, sondern zu einem höheren Zweck, nämlich um die
Hörer zu bessern. Er müsse deshalb herausfinden, was sie bewege
und habe ihre musikalische Aufnahmefähigkeit, die Qualität der
Spieler und selbst den Aufführungsort bei der Komposition mit zu
berücksichtigen. Ihr Schaffen, verehrte Felicitas Kukuck, ist von
diesen Prinzipien geprägt. Nicht nur an den Aufträgen von Fritz
Jode und Gottfried Wolters, die nach dem Weltkrieg an Sie herantraten,
sondern an der eigenen Überzeugung liegt es, daß Ihr kompositorischer
Schwerpunkt in der Vokalmusik, vor allem der geistlichen, liegt.
So kommt es, daß Sie die textgebundene Musik bevorzugen. Zum einen
hat das Verstanden-Werden absoluten Vorrang. Zum anderen halten Sie das
Singen für eine primäre Äußerung des Menschen, das
als Vorstufe des Sprechens, als "tönender Atem" bezeichnet werden
kann. Diese Verbundenheit gegenüber den elementar-körperlichen
Bedürfnissen, der Versuch, der "Inneren Bewegung geformter Sprache
und dem Wortrhythmus" zu entsprechen, ist ein Kernpunkt Ihres kompositorischen
Selbstverständnisses, zu dem Sie immer wieder zurückkehren.
Von der Musik für Soloflöte über Kantaten und Motetten
haben Sie bis zur geistlichen Oper ein weitverzweigtes und imponierendes
Werkverzeichnis vorzuweisen.
In einem Stilvergleich mit Hindemith wurden jüngst die Berührungspunkte
im Werkschaffen untersucht und festgestellt, daß Sie Hindemiths
Vorliebe für kontrapunktische Bildungen und durch Quarten geprägte
Melodik teilen. Wie er bedienen Sie sich des aus der klassisch-romantischen
Tradition stammenden Verfahrens, die Teile einer Komposition auf allen
Ebenen durch Substanzgemeinschaft zu verbinden. Dabei kommt es weniger
darauf an, Bezüge logisch zu verknüpfen, sondern die Bezüge
werden eher assoziativ wirksam. Im Unterschied zu Ihrem Lehrer verwenden
Sie über längere Strecken parallelgeführte Intervalle (meist
Quinten oder Quarten) und auch Akkorde.
Dieser Rückgriff auf gewachsene Traditionen bei gleichzeitiger lebendiger
Fortführung zeigt sich in besonderer Weise bei Ihrer Behandlung des
Wort-Ton-Verhältnisses. Ihre Orientierung an der Sprache läßt
Werke von suggestiver Eindringlichkeit entstehen. Sprechrhythmus und Sprachmelodie
sind oft Ausgangspunkt Ihrer Kompositionen. Bekanntlich ging man in der
Barockzeit davon aus, daß jede menschliche Seelenlage von einer
bestimmten Emotion bzw. einer Mischung von Emotionen geprägt war.
Da es sich bei der Musik um eine Tonsprache oder Klangrede handelte, wurden
die Gefühlsäußerungen des Menschen musikalisch umgesetzt,
was mit Hilfe von Lautmalerei, Bewegungsnachahmung, Imitation von Sprachtonfällen
und Darstellung von Gefühlen geschah. Diese Elemente haben sich bis
in Ihre Vertonungen hinein gehalten, und werden - wenn auch verändert
- weitergetragen. Wenn Sie den Intervallstrukturen eine semantische Bedeutung
zuschreiben, die große Sept aufwärts beispielsweise als den
Inbegriff des Aufschreis, den Tritonus als Verkörperung des Dämonischen
oder die verminderte Quart als Schmerzintervall verwenden, bewegen Sie
sich auf dem Boden dieser Tradition und entwickeln sie phantasievoll weiter.
Es ist dieses musikalische Denken in sich vielfach überlagernden
Bezügen, das Ihre Musik so reizvoll macht und dennoch Geheimnisse übrig
läßt, die sich der endgültigen Analyse entziehen. Gerade
das ist es aber auch, das Sie zur Musik greifen läßt, um sich
auszudrücken und Dinge zu sagen, die allein mit Worten nicht zu sagen
sind. Es ist Ihr Verdienst, auf der Grundlage einer vielschichtigen Wahrnehmung
anspruchsvoll und zugleich so ökonomisch wie möglich zu komponieren,
den Text als eine seelische und geistige Nahrungsaufnahme zu begreifen,
Intuition und Kalkül zusammenzuführen. Als ich das erste mal
einen von Ihnen vertonten Chorsatz zusammen mit Studierenden analysierte,
waren wir erstaunt, wie viel es zu entdecken gab: jede Phrase, ja fast
jedes Wort war bis in die Mikrostrukturen hinein musikalisch sinnvoll,
assoziativ und vielschichtig umgesetzt, und wir hatten am Ende das Gefühl,
daß die Partitur noch weiteres in sich barg, das sich erst nach
längerem Suchen erschließen würde. Sicherlich brauchen
wir eine Kunst, die ein "Pfahl im Fleische des Bestehenden" sein will,
wie es zuweilen formuliert wird. Aber wir brauchen auch eine, die sich
mit kontemplativen und religiösen Inhalten auseinandersetzt und Grundprinzipien
menschlichen Daseins zum Klingen bringt.
Zum Schluß ein paar Worte zu der Diskussion über eine weibliche Ästhetik.
Die Auseinandersetzungen sind verstummt, seit die Postmoderne Eingang
gehalten hat und uns weismachen will, daß es kein Subjekt gibt,
daß es die Spezies "Frau" also als einheitliche Gruppe nicht geben
kann. Es ist richtig, daß alle Spekulationen um eine weibliche Wesensart
an unselige Traditionen erinnern, in denen Frauen bestimmte Arbeitsfelder
zugewiesen wurden. Und doch gilt es festzuhalten, daß gerade die
Frauen Ihrer Generation eine weibliche Sozialisation durchlaufen haben,
die den Umgang mit Musik beeinflußt. Wie sonst wären immer
wiederkehrende Elemente beim Schaffen von Frauen zu erklären? Es
fällt ein deutliches Bestreben nach Vertiefung des musikalischen
Ausdrucks auf. Die Wahl der. Kompositionstechniken entspringt häufig
eher der Neugier als einem abstrakten Fortschrittsglauben. Musik wird
meist als Mitteilung begriffen und weniger als ein weißes ästhetische
Feld. Die Originalität wird nicht fetischisiert, sondern einer Konzeption
untergeordnet. Das Aufbrechen künstlicher binärer Gegensätze
wurde seit je her von Komponistinnen betrieben, wenn z.B. die Grenzen
zwischen U- und E-Musik überschritten, oder Musik, Töne, Bewußtsein
und Religion bzw. verschiedene Künste zu einer Einheit verschmolzen
werden. Und schließlich haben viele Komponistinnen ein besonders
engen Verhältnis zur Stimme. Dies alles "sind ästhetische Prämissen,
die auf Ihre Musik auch zutreffen Damit will ich Sie nicht einer anonymen
Gruppe zuordnen, sondern nur darauf hinweisen, daß ein weibliches
Erbe vorhanden ist, das bei angemessener Beteiligung von Frauen an der
musikalischen Kultur auf die herrschenden ästhetischen Normen einwirken
und sie eines Tages gar verändern könnte.
Ich freue mich mit allen Anwesenden über die Ehrung und wünsche
Ihnen, liebe Felicitas Kukuck, noch viele kreative und gesunde Schaffensjahre,
in denen Sie weiterhin tätig sein können. Sie sind ein Vorbild
für viele und bleiben es hoffentlich noch lange Zeit.
Prof. Dr. Eva Rieger (Universität Bremen): Laudatio
zur Verleihung der Brahms-Medaille der Stadt Hamburg am 25.1.1995
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